Jonathan Sheratte lichtete die vier Hausecken der Kleinen Gasse ab. Die fotografischen Abbilder bildeten die Folie für acht Bilder, die er anschließend malte. Die Bilder montierte er schließlich zu Paaren, so daß sie, die Bilder, eine der Hausecken, die die Kleine Gasse begrenzen, ergaben. Diese nun gemalten Ausschnitte, der festgehaltenen Hausecken, befestigte er wie versetzte Spiegel an den jeweils gegenüberliegenden Wänden. Die verblüffende Ähnlichkeit der Ausschnitte kann nur noch erinnert werden, nicht überprüft. Man kann allerdings an den gegenüberliegenden Wänden Zeichen wie Indizien vervollständigen, die die farbliche und formale Verhältnismäßigkeit der Bilder zu den Wänden nahebringen.Die von Jonathan Sheratte gewählte Malweise ordnet sich konzeptuell seiner Idee für Kunst im Stadtraum unter. Der Stil, entwickelt in der Pleinair-Malerei des 19. Jahrhunderts, nach der Erfindung der Fotografie, nutzt die technische Möglichkeit als Hilfsmittel. Ein Hilfsmittel für sein Gedächtnis. Ein Hilfsmittel, das ein korrektes Ablesen des gespeicherten Abbildes zuläßt. Eines kulturgeschichtlichen Speichers, der im nachherein einer malerischen Stofflichkeit überantwortet wurde. Ohne die dokumentierte Wirklichkeit des Lichtbildes zu unterlaufen.Die Gestaltungsmittel des Chronisten, Jonathan Sheratte, geben die Korrektheit der Vorlage wider wie ein Echo in den Bergen. Ich entnehme seiner Arbeit einen Gestus der Vergewisserung. Jonathan Sheratte vergewisserte sich seines Tuns in dieser Stadt an einem konkreten Ort. Er erhellte seine Anwesenheit, indem er seinen Standort gestalterisch hervorhob. Diese Hervorhebung vermittelt einen Zugang, der Nähe bedeutet. Die bewußte Betonung der herausgelösten Flächen stellt seine Wahrnehmung in einen Zusammenhang mit der Wahrnehmung der davor stehenden oder daran vorbei flanierenden Menschen. Derjenigen, die seiner Arbeit ansichtig werden. Sympathisch finde ich, daß die Klientel, auf die er zielt, vor allem Menschen sind, die in Potsdam wohnen. Weil vor allem sie den unbedeckten Zustand der Hausecken rekapitulieren können. Oder etwa nicht?
Die künstlerische Methode von Jonathan Sheratte gilt keinesfalls den Menschen, die von der Pyknolepsie betroffen sind. Die medizinischen Symptome dieses Krankheitsbildes lassen sich jedoch auf das allgemeine Alltagsverhalten vieler Menschen übertragen. Dieses Verhalten wird nicht als Krankheitsbild diagnostiziert. Ein Pyknoleptiker kann bis zu 100 Absencen pro Tag haben, in denen er seine Umgebung völlig vergißt. „Die Sinne bleiben wach, aber für äußere Eindrücke unempfindlich.“ Das defizitäre Wahrnehmungserhalten beinhaltet einen Verlust des Empfangens, des Aufnehmens von Situationen, die just gerade in diesem Moment passiere könnten; die authentisch sind. Mir fiele das Manuskript aus der Hand, ohne daß ich daraus schließen würde, daß ich es soeben noch in der Hand hielt, um diesen Text vorzutragen.Paul Virilo veröffentlichte 1980 seine wegweisende Abhandlung über die „Ästhetik des Verschwindens“. In dieser Abhandlung untersucht er – ausgehend von der Pyknolepsie – den Einfluß einer sich in rasanter Geschwindigkeit fortbewegenden Realität auf das Wahrnehmungsverhalten der Menschen. Das Buch ist analytisch und visionär zugleich. Ich mahne mit diesem Verweis keinesfalls an, daß es sich um eine Lektüre handelt, die man zu lesen hat. Für mich ergibt sich aber ein spannender Bezug zu den besprochenen Bildtafeln, der weitere Horizonte erschließt. Die Arbeit von Jonathan Sheratte hingegen lege ich jedem der hier Anwesenden ans Herz. Sie gleich einem verrückbaren Schatten auf meinen Augen, einem Baum in einer an sich baumfreien Straße, einer Blume in einem Fenster, in dem vorher kein Grün zu sehen war.
Thomas Kumlehn